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DIE GEGENWART DES KLANGS

Die analoge Rückkehr im digitalen Zeitalter

In einer Welt, in der Momente zu Benachrichtigungen verkümmern und Erinnerungen in Feeds verschwinden, geschieht etwas Leises, aber Kraftvolles. Eine Rückkehr zum Greifbaren. Vinylplatten. Filmkameras. Polaroids. Kassetten. Auf den ersten Blick wirkt es wie Nostalgie. Doch dahinter steckt mehr: eine Sehnsucht nach Textur. Nach Ritual. Nach Präsenz. Und nach einer Ästhetik, die sich nicht einfach wegscrollen lässt.

 

Das Knistern der Nadel ist kein Störgeräusch – es ist eine Pause. Der Klang von Vinyl, das Gewicht einer Kamera, das Rascheln umgeblätterter Seiten – all das ist ein stiller Widerstand gegen die saubere, seelenlose Effizienz des Digitalen. Und die Zahlen bestätigen das. 2022 übertraf Vinyl in den USA erstmals seit 1987 die CD-Verkäufe: 41 Millionen Schallplatten wurden verkauft, mit einem Umsatz von über 1,2 Milliarden Dollar (RIAA, 2023). 2023 stieg der Absatz erneut – um weitere 10 % (Pitchfork, 2024).

Vintage_Artistic Hub Magazine

Doch es geht nicht um Verkaufszahlen. Es geht darum, Musik sehen zu wollen. Sie zu berühren. Ein Album in den Händen zu halten, das Artwork zu entdecken, Liedtexte durchzublättern und eine Geschichte von Anfang bis Ende zu hören. Jack White brachte es auf den Punkt:

„Das Ritual von Vinyl fordert deine Aufmerksamkeit. Und genau das macht es so wertvoll.“

Das gilt auch für die Fotografie. Eine analoge Kamera bietet keine Vorschau. Kein Löschen. Keine zweite Chance. Nur die Stille vor dem Auslösen, das Warten danach und die stille Magie des Entwicklungsprozesses. Anfang 2024 musste Kodak die Filmproduktion vorübergehend pausieren – nicht weil die Nachfrage sank, sondern weil sie mit der Produktion nicht mehr hinterherkamen (Fstoppers, 2024). Das ist keine Nostalgie – das ist Bewegung. 


analog photo artistic hub magazine

Für Gen Z – die vernetzteste Generation der Geschichte – ist analog ein persönlicher Akt des Widerstands. Sie romantisieren nicht die Vergangenheit – sie lehnen das heutige Tempo ab. Sie wählen Kameras ohne Bildschirm. Sie schaffen Bilder, die offline leben. Die warten dürfen. Die atmen. Laut einem Bericht der Vinyl Alliance aus dem Jahr 2023 ist Gen Z die am schnellsten wachsende Gruppe unter den Schallplattenkäufer*innen (Vinyl Alliance, 2023). Für sie ist das kein Trend – sondern eine Sprache.


Auf Instagram und TikTok floriert die #vinylcommunity . Jugendliche und junge Erwachsene teilen handgeschriebene Playlists, zeigen ihre Funde vom Flohmarkt und tauschen Gedanken über Pressungen, Klangqualität und Erinnerungen aus. Gigi Hadids analoger Account @gisposable und David Dobriks Dispo-Projekt bedienen dieselbe Sehnsucht: langsamer zu werden, Momente festzuhalten und sie wirklich zu erleben. 


In Berlin spielt Claas Brieler – Musiker, DJ und Plattensammler – in kerzenbeleuchteten Räumen Vinyl aus seiner 15.000 Stück umfassenden Sammlung. Für ihn ist klar: Nur analog erlaubt echte Präsenz im Hören (Analog Foundation, 2023). In New York führt Jamal Alnasr seinen Laden Village Revival Records mit der Sorgfalt eines Archivars. Er kennt jede Platte. Jede Geschichte. Zu seinen Stammkund*innen gehören Rosalía, Bella Hadid – und Studierende, die zufällig hereinschneien und verändert wieder gehen (The Guardian, 2022).


In Kansas begann Justin Cary 2019, Filme in seiner Küche zu entwickeln. Heute verarbeitet sein Labor, das Midwest Film Co., Filmrollen aus dem ganzen Land – von Fotografinnen, Künstlerinnen und Musiker*innen, die mehr wollen als Megapixel. Seine Arbeit ist nicht nur Chemie. Sie ist Widerstand. Gegen Geschwindigkeit. Gegen Perfektion. Gegen Erschöpfung.


Dieser Widerstand hat seinen eigenen Klang. Das sanfte Knistern von Vinyl. Das Korn auf dem Abzug. Licht, das dorthin fließt, wo es nicht soll. Farben, die nicht aus Presets stammen. Und ein Geruch – Papier, Staub, Entwicklerflüssigkeit. Diese sogenannten Fehler? Genau sie lassen Analoges lebendig wirken. Ehrlich. Schön.

Fotograf*innen wie Thalíe Gochez, die ausschließlich auf Film arbeiten, und Künstler wie Bastiaan Woudt, dessen digitale Arbeiten die Ruhe und Tiefe analoger Ästhetik atmen, erinnern uns daran: Das Medium zählt – aber die Absicht zählt mehr. Was wir wahrnehmen. Was wir bewusst festhalten. Was wir unperfekt sein lassen.

 

Toningenieurinnen, DJs, Gestalterinnen, Sammlerinnen – sie alle bringen, jeder auf eigene Weise, Dinge zurück, die Bestand haben. Nicht um die Vergangenheit wiederzubeleben, sondern um die Gegenwart neu zu denken. Um dem Flüchtigen wieder Gewicht zu geben. Dem Format Bedeutung. Und dem Hören wieder Stille.

 

Vielleicht können wir der digitalen Welt nicht entkommen. Aber wir können entscheiden, wann wir wirklich anwesend sind. Analog ist keine Flucht. Es ist eine Rückkehr. Zum Rhythmus. Zum Raum. Zur Ruhe. Zu uns selbst.

 

Das ist nicht retro. Das ist menschlich.




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