Kerstin Heinze-Grohmann - Kunst mit Fäden zwischen Vergangenheit und Zukunft
- ARTISTIC HUB MAGAZINE
- 29. März
- 9 Min. Lesezeit
SWITZERLAND
Wenn Kunst die Fäden von Vergangenheit und Zukunft miteinander verwebt, entsteht etwas Einzigartiges – eine visuelle Sprache, die sowohl Geschichten als auch Emotionen trägt. Kerstin Heinze-Grohmann ist nicht nur eine Künstlerin, sondern eine Geschichtenerzählerin, deren Werke Malerei, Textilkunst und tiefgründige menschliche Narrative vereinen. Ihre Kompositionen sind keine statischen Bilder, sondern dynamische Szenen, in denen sich Perspektiven verschieben und die Grenzen zwischen Realität und Fantasie verschwimmen. Durch die Techniken der Fadengrafik und der Nadelmalerei erweckt sie nicht nur die Textilkunst in der bildenden Kunst zum Leben, sondern öffnet auch Türen zu unentdeckten Erzählungen. Für sie ist Kunst nicht nur eine Form des Ausdrucks, sondern eine Brücke zwischen Tradition, der modernen Welt und menschlichen Schicksalen.

Sie haben einen bemerkenswerten Weg hinter sich – von der Arbeit mit Textilien und Modestoffen hin zur Etablierung als multidisziplinäre bildende Künstlerin mit einer unverwechselbaren Handschrift. Wie gestaltete sich dieser Übergang von der Welt der Textilien in die Kunst? Inwiefern haben Ihre frühen handwerklichen Fähigkeiten und Erfahrungen Ihren heutigen künstlerischen Ausdruck geprägt?
Durch meine selbst angelernten Fähigkeiten und Techniken als Kind und Jugendliche in vielen Strick und Sticktechniken, kam ich schon sehr früh in den Genuss zu experimentieren. In ganz jungen Jahren (zu Zeiten der DDR, in die ich hineingeboren wurde) kamen Bekannte oder Verwandte meiner Eltern zu uns und wurden so auf meine Fähigkeiten aufmerksam. Aus einigen Hochglanzmagazinen der damaligen BRD brachten sie kleine Fotos von Bildern zu uns und ich sollte diese im Originalformat in der Technik des Gobelins arbeiten. So bekam ich schon sehr früh den Einblick in die Kunstwelt, was in der DDR nicht allzu einfach war, denn dort gab es Kunst die Systemrelevant war und kein Van Gogh oder Monets. Begonnen habe ich da tatsächlich mit den Sonnenblumen von van Gogh und mein letztes Werk war das Mohnblumenfeld von Monet. Dies aber nur kurz am Rande.
Das absolute Verständnis, was Materialkunde angeht, bekam ich mit 16 Jahren in meiner textilen Ausbildung vermittelt, auch Stoffstrukturen, Muster und Ornamente wurden dort vermittelt. Diese Sensibilität für Texturen und Oberflächen findet sich in meinen Arbeiten wieder. Beschränken wollte ich mich aber nicht nur auf das textile Medium. Es gab so viel, was mich neugierig machte. Ich begann, textile Elemente mit der Malerei zu verbinden. Da ich nun kein Rembrandt in der Malerei bin, habe ich einen comicgartigen Stil für mich entwickelt. Es hat lange gedauert, bis ich dort hinwollte, wo ich jetzt in der Kunst stehe.
Meine Arbeiten zeigen oft Fadenstrukturen in Form der Fadengrafiken oder Nadelmalerei, wo der Betrachter meiner Arbeiten sicher die textile Herkunft meiner Person erkennt. Gleichzeitig habe ich angefangen Geschichten in meinen Arbeiten zu erzählen und nicht nur eine Geschichte im Werk. Wer genauer hinsieht, erkennt in manchem Werk 2 bis 3 Geschichten, die miteinander verwoben sind. Ich nutze Elemente der Fadengrafik und der Nadelmalerei, was eine einzigartige Kombination in meiner Bildsprache erweckt.
Durch Ausstellungen, Wettbewerbe und eigene Projekte schaffte ich den Schritt von der angewandten Textilkunst in die bildende Kunst. Ein Bruch mit der Textilkunst kam für mich nie in Frage, daher wählte ich die Integration von meinem Wissen in eine neue Ausdrucksweise.

Ihre Werke verbinden alltägliche Szenen mit surrealen Elementen und erschaffen dadurch dichte, mehrschichtige Erzählungen.
Woher schöpfen Sie die Inspiration für diese fantasievollen Szenerien? Wie gelingt es Ihnen, gewöhnliche Momente in kraftvolle visuelle Geschichten zu verwandeln?
Ich spiele mit der Fantasie und der Realität des Lebens. Das Leben ist so vielfältig und reichhaltig, dass man nur genauer hinschauen sollte, um diese Geschichten zu entdecken.
Meine Arbeiten zeigen oft Szenen aus dem täglichen Leben.
Menschen in ihren Wohnungen, die sie innig lieben und sich dort sehr wohlfühlen. Ich male aber auch Menschen außerhalb dieser Szenerie auf der Straße, beim Nachdenken oder in ihrer Interaktion.
Ich betrachte den Moment dieser Szenerie nicht nur als Abbildung der Realität, sondern als Ausgangspunkt für tiefergreifende Geschichten und Gedanken. In meinen Gedanken werden szenarische Skizzen bereits erstellt, die es dann aufs Papier oder auf die Leinwand zu bannen gilt. Man sagt mir auch manchmal nach, dass ich einfach zu viel Fantasie habe. Besonders in Gesprächen mit meinen Mitmenschen, die mich fragen, was ich plane, wird dieser Gedanke erzeugt.
Ich beobachte Menschen überall, wo ich gehe und stehe, ob im Urlaub oder sogar auf Ausstellungen und Messen. Menschen geben sich natürlich, wenn sie sich nicht beobachtet fühlen.
Mein Anliegen ist es, das Sichtbare mit dem Unsichtbaren im Leben zu verkoppeln.
Eine Ihrer unverkennbaren Techniken ist das „Malen mit Fäden“ – feine Seidenfäden werden physisch in die Komposition eingewoben und verschmelzen mit der Malerei. Was ermöglicht Ihnen diese Verbindung von Textilkunst und Malerei, das traditionelle Techniken nicht könnten? Welche Wirkung haben die eingewebten Fäden auf die Wahrnehmung Ihrer Kunst?
Man könnte auch andersherum fragen – warum malen Menschen nur auf Leinwände oder Papier und lassen die textile Kunst Aussen vor? Diese Frage stelle ich manchmal auf Ausstellungen, den Besucher und Besucherinnen.
Im Endeffekt ist es so, dass die Kombination der Malerei mit dem Textilen die Aufmerksamkeit erweckt und auch nur dann, wenn der/die Betrachter/in sich Zeit nimmt und einen zweiten oder dritten Blick auf das Werk wirft.
Ich finde, Traditionen sollten gepflegt werden und nicht aussterben. In der heutigen schnelllebigen Zeit kann es passieren, dass Handwerk ganz verschwindet und das ist leider die Realität. Das Einbringen der Seidenfäden und die dadurch entstehende Haptik ist einzigartig und komplimentiert in meinem Sinne die Arbeit. Schon allein die Brillanz der Seidenfäden haben eine ganz andere Wirkung auf den Menschen, der vor dem Werk steht. Dazu kommt noch, dass ein kleiner Hauch von Dreidimensionalität in der Arbeit entsteht.
Die Fäden stehen in Verbindung mit der gezeigten Malerei und interagieren miteinander. Sie verbinden die Helden in den Arbeiten und hüllen diese ein. Es entstehen verzerrte Perspektiven, die das Gefühl von Bewegung erzeugen. Diese unerwarteten Details lassen den/die Betrachter/in innehalten und nach der Frage, der Bedeutung und dem warum suchen.
Ich nutze Elemente aus dem textilen Medium, was eine einzigartige Kombination aus traditioneller Handarbeit und moderner Bildsprache ist. Meine Arbeiten sind haptisch und in einigen Aspekten dreidimensional zu sehen. Diese Kombination ist für mich einfach spannend und der Ausdruck meiner selbst.
Sie arbeiten mit verschiedensten künstlerischen Medien – von Malerei auf handgeschöpftem Papier, kombiniert mit Seidenfäden, über textile Porträts bis hin zu skulpturalen Installationen aus recycelten Materialien. Wie entscheiden Sie, welches Medium oder welche Technik für eine bestimmte Idee am besten geeignet ist? Inwiefern inspiriert und beflügelt Sie das ständige Experimentieren mit Materialien?

Am Anfang habe ich auf handgeschöpftes Papier nur die Fadengrafik integriert, was schon sehr speziell war. Handgeschöpftes Papier hat eine hohe Sensibilität und muss mit höchster Vorsicht gearbeitet werden. Wir alle wissen – Papier reißt sehr schnell und da die Fragmente der Fadengrafik stets als letzter Arbeitsschritt eingebracht werden, heißt es äusserste Vorsicht walten zu lassen. Am Anfang habe ich diese Arbeiten hinter Glas gerahmt, was aber die Wirkung der Fadengrafik zunichtemachte. Ich musste mir da etwas einfallen lassen und habe so das Aufbringen auf Materialien, die man nicht hinter Glas verschließen musste, gewählt um die Dreidimensionalität zu erzeugen. Man wächst ja mit den Aufgaben und der nächste Schritt für die optische Wirkung war dann, das handgeschöpfte Papier auf Leinwand zu ziehen. Das war eine Herausforderung und kostete viel Schweiß und Ruhe.
Ich fand schon immer, dass man als Künstlerin sich auch weiterentwickeln sollte und den Stillstand vermeiden muss.
So habe ich 2020 die Nadelmalerei wiederentdeckt. Die Nadelmalerei ist eine Kunststickart. Diese entstand 700 vor Christus und ging relativ schnell in die Vergessenheit über. Nadelmalerei zeichnet das Arbeiten mit Seidenfäden aus und erscheint von weiten dem Betrachter wie eine Malerei. Erst bei näherer Betrachtung entdeckt der Betrachter, was in der Arbeit agiert und verarbeitet wurde. Diese Brillanz der Fäden und die Haptik überzeugt mich einfach. Es ist absolutes Neuland in der Kunst, die Verbindung von Malerei und dieser Kunststickart. Galeristen nennen das Nischenkunst, ich nenne es Wiedererkennungswert.
Da man als Künstlerin nicht auf der Stelle treten möchte, versucht man sich immer weiter zu fordern. Meine Herausforderung war, beide textilen Techniken in den Einklang mit der Malerei in einer Arbeit zu bringen. Ich habe die comicgartige Malerei mit der Nadelmalerei und der Fadengrafik kombiniert und das Ergebnis war überzeugend.
Ein Künstler / eine Künstlerin sollte einen Wiedererkennungswert haben. Dies wurde mir auch schon sehr oft auf den Kopf zugesagt.
Ihre Werke erinnern oft an eine Bühne, auf der sich verschiedene Geschichten überlagern – begonnene Szenen brechen ab, um neuen Platz zu machen, Perspektiven verschieben sich ständig. Welche künstlerische Absicht steckt hinter dieser mehrschichtigen Narration? Welche Gedanken oder Emotionen möchten Sie bei den Betrachter:innen wecken, wenn sie in diese facettenreichen Szenen eintauchen?
Das Leben ist eine Bühne und wir Menschen agieren auf ihr, egal in welcher Lebensphase wir gerade stecken.
Ich möchte den Betrachter anregen, sich in die Arbeit zu vertiefen - Fragen zu stellen, sich selbst zu hinterfragen oder sich einfach einsaugen zu lassen in das Werk. Ich spiele mit der Fantasie und der Realität des Lebens und wir sind alle die Protagonisten darin.
Der Schlüssel in meiner erzählerischen Phase in den Werken, soll dem Betrachter Anhaltspunkte geben, um die Geschichte zu erkennen, sich Gedanken darüber zu machen, aber gleichzeitig Raum für Interpretationen zu lassen.
Emotionen sind hier das Schlüsselwort, das den Betrachter reizen soll, sich näher mit den Werken zu beschäftigen.

Seit den Anfängen Ihrer künstlerischen Laufbahn besteht in Ihren Werken ein Dialog zwischen Malerei und Textilkunst – insbesondere durch die Technik der Fadengrafik und den Einsatz von Fäden in Ihren Kompositionen. Reizt es Sie heute noch, neue Wege der Verbindung dieser Medien zu erforschen, oder sehen Sie Ihren aktuellen künstlerischen Schwerpunkt in einer anderen Richtung?
So wie es im Hier und heute ist, ist es gut für mich. Meine Bildsprache wird sicher inhaltlich weitergeführt und weiterentwickelt, doch das Medium Textil in Form der Fadengrafik und der Nadelmalerei wird Bestand haben. Es wird immer wieder Serien oder Reihen von Arbeiten geben, wo meine comicgartigen Helden fehlen werden.
Zurzeit arbeite ich an Werken, die von vergangenen inspiriert wurden und teilweise nur Dinge oder Gegenstände zeigen, meine sogenannten „Stille Leben“. Auch gibt es eine Serie über die Vielfalt in Flora und Faune, die 50 % gemalt und 50 % mit der Nadelmalerei gearbeitet wurden.
Es wird auch immer wieder Arbeiten geben, die nur im textilen Medium der Nadelmalerei gearbeitet werden. Dazu zählen meine Stadtlandschaften oder Räume. Räume erzählen über seinen Bewohner sehr viel und die Geschichten dahinter sind spannend und interessieren den Betrachter.
Straßen und Städte verändern sich, ich versuche meinen kleinen Beitrag dazu zu leisten und in meiner Technik dies alles festzuhalten, eine sogenannte Archivierung.
Ich denke da gerade an die Kurstätte Beelitz Heilstätten in Deutschland, früher ein Sanatorium, heute fast dem Verfall preisgegeben. Es gab Jahre, da wurden die Gebäude leider sehr vernachlässigt und es entstand ein sogenannter Lost Place. Geschichte ist wichtig, für uns Menschen, unsere Nachkommen sollten, die Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte von Geschichte sehen und erleben dürfen.
Nur wir müssen uns die Frage stellen, wie lange werden wir solche Räume und Stadtlandschaften noch so vorfinden. Ich sprach es schon an, alte Traditionen werden weggefegt und werden verschwinden, so ist es auch mit alten Städten und Gebäuden.
Wir erinnern uns alle ans Bauhaus, was besteht heute noch? Ohne das Weitertragen und Weitersagen, würde auch die Geschichte des Bauhauses verschwinden.
Neben Ihrer künstlerischen Arbeit engagieren Sie sich aktiv für soziale Projekte – Sie sind Botschafterin der Stiftung des Schweizer Kinderhospizes und haben die mobile Galerie „Vielfaeltig“ ins Leben gerufen.
Was treibt Sie an, sich neben Ihrer Kunst auch sozial zu engagieren? Inwiefern beeinflussen diese Erfahrungen Ihre Sicht auf die Rolle der Kunst in der Gesellschaft?
Sozial engagieren sollte sich eigentlich jeder, so wie er die Möglichkeit hat und in seinem Rahmen.
Soziale Projekte sind ein wichtiger Bestandteil im Leben, es gibt Menschen denen geht es nicht so gut wie uns. Als Botschafterin der Stiftung Kinderhospiz Schweiz versuche ich auf die Lage der schwerkranken Kinder mit einer geringen Lebenserwartung aufmerksam zu machen. Es gibt da nicht nur die kranken Kinder, sondern auch das Umfeld, was betroffen ist - die Eltern, Geschwister, Großeltern gehören dazu. Eltern und Kinder brauchen auch eine Auszeit und dazu benötigt man Orte, an denen sie dieses unbeschwerte Leben eine Zeitlang erleben dürfen. Zurzeit entsteht ein solcher Rückzugsort in Fällanden, das Flamingo Kinderhospiz.
Diese Erfahrungen, Gedanken spiegeln sich auch in meinen Arbeiten wieder.
Mit meinem mobilen Projekt „Vielfaeltig-Produzentengalerie“ versuche ich Künstler und Künstlerinnen einzuladen ihre Werke zu präsentieren und so Künstlerinnen und auch Künstler zu motivieren sich präsent zu machen in der Öffentlichkeit und auch im Ausland. Nur wer sichtbar ist, kann auch gesehen werden.
Nur wer sichtbar ist, kann auch gesehen werden.
Kerstin Heinze-Grohmann bleibt ihrem künstlerischen Weg treu und pflegt den Dialog zwischen Malerei und Textilkunst. Ihre Werke sind mehr als nur Ästhetik – sie sind ein Archiv von Emotionen, Geschichten und Historie, eingewoben in jeden einzelnen Faden. Während sich die Welt verändert und Traditionen langsam verblassen, haucht sie ihnen mit ihrer Kunst neues Leben ein, bewahrt und interpretiert sie auf ihre Weise. Ihre Werke geben keine fertigen Antworten, sondern regen den Betrachter an, eigene Geschichten in den vielschichtigen Kompositionen zu entdecken. Am Ende sind ihre Arbeiten nicht nur ein Spiegel vergangener Zeiten, sondern auch ein Faden, der die Vergangenheit mit der Zukunft verbindet.