URTENEN-SCHÖNBÜHL | SWITZERLAND
Irène Meister malt nicht einfach nur Landschaften, sondern das, was hinter ihnen verborgen liegt. Ihre Werke erzählen Geschichten von verlassenen Villen, von Felsen, die der Wind formt, und von Mauern, die langsam wieder von der Natur zurückerobert werden. Es ist eine stille, melancholische Schönheit, die sie sichtbar macht. Präzision und intuitive Leichtigkeit verschmelzen bei ihr zu Bildern voller Tiefe und zarter Stimmung. Schicht um Schicht lädt Irène uns ein, mit ihr in diese poetische Welt einzutauchen und das sanfte Flüstern der Vergänglichkeit gemeinsam zu spüren.

Ihre Arbeiten zeichnen sich durch eine außergewöhnliche Verbindung von Ästhetik und Erzählkraft aus. Wie hat sich diese Symbiose zwischen Grafikdesign und freier Kunst entwickelt? War es ihr gestalterisches Wissen, das ihren künstlerischen Stil geprägt hat, oder war es eine intuitive Entwicklung?
Als Grafikerin bin ich es gewohnt Bilderwelten zu kreieren. Schon früh interessierte ich mich sehr für die Sparte Illustration. Für verschiedene kulturelle Veranstaltungen konnte ich Plakate und Illustrationen erstellen und für eine grössere Weinkellerei konnte ich auch etliche Weinettiketten gestalten. In meiner Ausbildung als Grafikerin lernten wir noch viele analoge Maltechniken. Erst später kam der Computer mit den verschiedenen Gestaltungsprogrammen dazu.
Meine Ausbildung als Grafikerin hat mich deutlich geprägt. Erst mit der Zeit wagte ich mich an freiere Themen, dazu besuchte ich Weiterbildungen bei bekannten Künstlerinnnen im In- und Ausland. 2022 trat ich der „Ikonenschmiede Akademie“ in Deutschland bei und lernte so die Mechanismen der Kunstwelt kennen. Ich beschäftigte mich mit dem Thema „Meine Intensionen“ intensiv. Meinen roten Faden in der Malerei habe ich gefunden und ich entwickle meinen Weg weiter.
In Ihren Werken verschmelzen Natur und urbane Landschaften – Bäume, Wasser, Felsen und verlassene Gebäude werden Teil einer gemeinsamen visuellen Erzählung. Was fasziniert Sie an diesem Zusammenspiel? Gibt es einen bestimmten Ort der Sie besonders inspiriert hat?
Ich bevorzuge Orte, die eine gewisse Magie ausstrahlen. Oder es sind Orte, die verlassen wurden und nun durch die Natur zurück erobert werden, sogenannte „Lost places“. In Italien besuchte ich zum ersten Mal eine Villa, die von ihren Besitzern verlassen wurde. Es hatte zwar keine Möbel und sonstige Einrichtungen mehr in den Zimmern, aber der Raum wirkte nicht wirklich leer auf mich. Die Wände waren voll mit Malereien oder Stuckaturen, teilweise blätterte die Farbe ab. Dieser Charme des Zerfalls und mit den Motiven der Putten Engel war für mich beeindruckend. Zum Teil wuchs die Natur durch die Fenster der Villa hinein. Da entstand die erste Zeichnung eines Lost places.
Mit meinem Mann bin ich viel auf Reisen. Die letzte Reise unternahmen wir zusammen in die Bretagne. Die Rosa Granitkünste mit ihren Felsen und Farben haben mich fasziniert. Mit meiner alten Lumix Kamera fing ich die Stimmungen und das Wetter der Bretagne ein. Zuhause setzte ich dann diese Bilder auf Leinwand um, nach Vorlage der Aufnahmen. Dabei setze ich die Bilder nicht 1:1 um, sondern versuche meine vor Ort empfundenen Ideen und Emotionen einzubringen. Das Thema „Eintauchen in die Landschaft“ beschäftigt mich schon lange. Beim Spazieren oder Wandern tauche ich immer wieder in die Natur ein.
Ihre Bildsprache bewegt sich zwischen Abstraktion und Figuration und erzeugt eine komplexe Wahrnehmung von Raum und Emotion.Wie finden Sie die Balance zwischen diesen Elementen? Lassen Sie sich beim Malen von einer klaren Vorstellung leiten, oder ist es ein Prozess, der sich intuitiv entfaltet?
Als Grafikerin habe ich gelernt genau zu arbeiten. Die Perspektiven müssen stimmen und auch Gegenständliches Zeichnen war damals ein Muss. Abstrakt zu malen musste ich erst wieder in verschiedenen Kursen lernen. Intuitiv male ich gewisse Teile des Bildes abstrakt und andere hebe ich konkret hervor. Kontraste sind mir dabei sehr wichtig. Ich setze diese sehr bewusst im Bild ein. Ich male hauptsächlich auf Leinwand und im Quadrat (70 x 70 cm) und verwende dabei einen kleinen Spachtel anstatt eines Pinsels. So bin ich gezwungen grosszügiger zu arbeiten.
Die Idee, mich selbst als Person in den Raum zustellen, finde ich passend. Die Orte, die ich besuche, rufen verschiedene Stimmungen in mir hervor und diese setze ich dann in meinen Bildern um. Eintauchen ist ein passender Begriff dafür. Ich stelle mich selber nur als Schattenriss dar, mehr braucht es nicht von mir.
In einer weiteren Serie male ich Bodenwurzeln der Bäume und erfinde rund um die Wurzeln neue Landschaften. Entweder sind es die Farben oder die Formen, die mich faszinieren. Flechten in ihren verschiedenen Formen interessieren mich sehr. Diese Bilder male ich auf Aquarellpapier und im Format 30 x 30 cm.
Verlassene Orte und industrielle Landschaften sind wiederkehrende Motive in Ihrer Kunst, doch sie wirken weder kalt noch trostlos – vielmehr tragen sie eine poetische Melancholie in sich.
Wie empfinden Sie diese Räume? Sind sie für Sie Zeugnisse der Vergangenheit oder eher leere Leinwände, die die Natur neu gestaltet?
Diese Räume sind für mich nicht leer, sie haben eine Ausstrahlung und damit einen gewissen Charme. Die Geschichten hinter diesen verlassenen Orten interessieren mich sehr. In Lanzarote war ich mit einer Gruppe Fotografen unterwegs. Da entdeckten wir die Ruine einer alten Weinmanufaktur auf einem Hügel. Der Weg dazu war recht unwegsam. Man musste sich dieses Erlebnis erarbeiten. Das Gebäude war aufgegeben worden, die Reben verwildert, der Boden ist sehr karg. Es gab ja auch Hungersnöte auf Lanzarot. Die Gebäude waren stark verfallen, aber im Abendlicht kamen die Erdfarben vom Putz wunderbar zur Geltung. Ton in Ton. Das liebe ich.

Materialien, Texturen und technische Ansätze spielen eine zentrale Rolle in Ihrer Arbeit.
Gab es eine experimentelle Technik oder ein unerwartetes Medium, das Ihre Herangehensweise an die Kunst grundlegend verändert hat?
Bei einem meiner ersten Kurse habe ich gelernt grossflächig mit Acryl zu arbeiten. Auch mit Hilfe von Sprühflaschen mit Wasser lässt sich die Acrylfarbe verfliessen. Schon immer malte ich gerne Ton in Ton. Durch organische Farbpigmente ergeben sich sehr schöne Töne auf meinen Bildern. Farbspritzer auf der Leinwand ergeben ein gewisses Extra und bringen Bewegung ins Bild. Für die Collagenbilder färbe ich vorher die Papiere mit Acryl, Bitumen oder Ölfarbe ein. Danach wird das Papier in die gewünschte Form geschnitten oder gerissen. Mit Acrylbinder werden die einzelne Teile auf die vorbereitete Leinwand geklebt und diese weiter bemalt. Durch meine Kenntnisse von verschiedenen Maltechniken kann ich sie so anwenden wie ich möchte. Meistens kombiniere ich verschiedene Techniken miteinander.

Beim Betrachten Ihrer Werke fällt eine besondere Stille auf – eine Stille, die nicht leer ist, sondern voller Atmosphäre und subtiler Erzählungen.
Ich möchte die Vergänglichkeit dieser interessanten Orte zeigen. So wie es jetzt ist. Das bleibt meistens nicht lange so. Gerne bin ich auch in der Natur unterwegs. Vielfach sehe ich Dinge und Details, die mich faszinieren. Ich bilde meistens nur ein Detail von einer Landschaft oder von Gebäuden ab. Ich hebe das Detail hervor, das mich so fasziniert hat. Sei es ein Durchblick (vom Haus in die Natur) oder die Farben und Formen der Felsen. Was mir im Bild wichtig erscheint, schaffe ich detailliert aus. Der Rest wird angedeutet. Mir gefällt dieser Gegensatz.
Der Betrachter taucht mit mir in diese Welt ein.
Die Gemälde von Irène Meister erinnern uns auf berührende Weise daran, wie viel Schönheit in vergänglichen Momenten verborgen liegt. Ihre Kunstwerke enthüllen die Poesie der Orte, die verlassen wurden, und erzählen von Landschaften, die gerade deshalb besonders sind, weil die Zeit sie verändert. In diesen ruhigen, intensiven Atmosphären gibt Irène uns Raum, innezuhalten und die Schönheit dessen wahrzunehmen, was sonst übersehen wird. Denn wo etwas endet, da beginnt immer wieder etwas Neues – poetisch, still und voller Hoffnung.