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EIN ORT, DER ATMET

Die Rückkehr zur Natur durch biophiles Design

Bosco Verticale-Nguyen Tan Tin's photo_ARTISTIC HUB MAGAZINE
Bosco Verticale-Nguyen Tan Tin's photo

Manche Räume müssen nichts sagen, um verstanden zu werden. Du betrittst sie und etwas in dir wird still. Dein Atem wird ruhiger dein Blick verweilt und du kommst bei dir selbst an. Es sind keine lauten Räume, keine Bühnen, denn sie flüstern. In der Maserung des Holzes, im Spiel des Lichts, das durch Öffnungen fällt, im leisen Beisein von Pflanzen, die nicht Dekoration sind, sondern Begleiter. Es sind Räume, die von der Natur geformt wurden und auf den Menschen paradiesisch wirken. Ja das ist der Kern des biophilen Designs.

 

Im Gegensatz zu kurzlebigen Trends ist Biophilie ein tief verankerter Instinkt. Architektinnen und Designer, die ihn verstehen, ahmen die Natur nicht nach. Sie laden sie ein. Biophiles Design bedeutet nicht, irgendwo eine Topfpflanze aufzustellen. Es geht um eine echte, intuitive Verbindung zu dem, was heilt, inspiriert und uns wieder ins Gleichgewicht bringt.

 

Die Pandemie brachte viel Unsicherheit, aber auch die Erkenntnis, dass Räume keine Kulissen sind. Sie werden zu Rückzugsorten, zu Spiegeln unserer Emotionen, zu stillen Partnern im Alltag. Eingeschlossen in den eigenen vier Wänden, spürten viele zum ersten Mal, wie ein Raum bedrängen oder beruhigen kann. Wie Licht blenden oder wärmen kann. Wie sich eine Wand wie ein Gefängnis anfühlen kann, oder wie ein schützender Rahmen. Biophile Prinzipien hielten Einzug in unser Zuhause, in Büros, Hotels, Bibliotheken – und sie sind geblieben. Weil wir sie nicht mehr missen wollen.


Heute begegnen sie uns überall. In Lissabon wirkt der Second Home coworking, als wäre er in einem tropischen Gewächshaus entstanden. Über tausend Pflanzen durchziehen das Gebäude, beeinflussen das Raumklima und die Atmosphäre. In Mailand verwandelt der berühmte Bosco Verticale zwei Wohnhochhäuser in lebendige Ökosysteme, deren Fassaden vollständig begrünt sind. In Singapur spazieren Reisende im Jewel Changi Airport durch einen urbanen Dschungel, vorbei an Wasserfällen und exotischer Vegetation; statt einfach nur auf den Abflug zu warten. Und in Amsterdam lässt die Bar Botanique die Grenzen zwischen Café und Wintergarten verschwimmen und macht aus einem Getränk ein sinnliches Erlebnis.


Doch mehr als die Orte selbst, sind es die Menschen, die biophiles Design zum Leben erwecken. Der vietnamesische Architekt Vo Trong Nghia baut nicht nur, nein er pflanzt, modelliert, hört zu. Seine Gebäude wirken gewachsen, nicht konstruiert. Jedes Blatt hat eine Bedeutung, jeder Schatten eine Sprache. Der Italiener Stefano Boeri setzt seine Vision vertikaler Wälder weltweit um und zeigt, dass grüne Städte keine Utopie sind, sondern eine realisierbare Zukunft.

 

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Jewel Changi Airport, Photo by Thea Prum

Das ist nicht nur Poesie. Es ist Wissenschaft. Laut Harvard Health Publishing senken naturnah gestaltete Räume den Cortisolspiegel, fördern die Konzentration und unterstützen Heilungsprozesse. Unternehmen, die biophiles Design in ihre Arbeitswelten integrieren, berichten von mehr Produktivität und weniger Krankheitstagen. Aber der wahre Wert liegt nicht in Zahlen. Man spürt ihn – in diesem stillen, tiefen Gefühl von: Hier bin ich richtig. 


Vielleicht ist das das neue Gesicht von Luxus. Kein Glanz. Kein Spektakel. Sondern Räume mit Seele. Die nicht beeindrucken wollen, sondern berühren. Den Körper, den Geist, das Herz und die Natur.

 

Deshalb ist biophiles Design kein vorübergehender Hype. Es ist eine Rückkehr zu dem, was wir immer schon geliebt haben. Zu Grün, Licht, Stille, dem Duft von Holz, dem Flüstern der Blätter. Es ist die Kunst des Lebens, übersetzt in Raum. Und wenn ein solcher Raum zu atmen beginnt, tun wir es auch. Tiefer. Ruhiger. Wahrhaftiger.

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