BILDSCHIRM ZU – BLICK NACH INNEN
- ARTISTIC HUB MAGAZINE
- 4. Mai
- 5 Min. Lesezeit
Digital Detox als Kunst der Stille und Präsenz
Es gibt einen Moment, den wir alle kennen, auch wenn wir ihn selten benennen. Dieses leise Zucken der Hand zum Handy, das gar nicht geklingelt hat. Ein Reflex, keine Notwendigkeit. Ein Blick aufs Display, nicht weil eine Nachricht da ist, sondern aus Gewohnheit. Und vielleicht wird genau in diesem Moment klar: Wir haben vergessen, wie sich Langeweile anfühlt. Ruhe. Ein Gespräch ohne Ablenkung. Einfach da zu sein. Ohne Reize ohne Scrollen und vor allem ohne auf den ständigen Impuls zu reagieren.
Digital Detox ist in unserer Zeit kein Rückschritt und schon gar kein Verzicht. Es ist keine Flucht, sondern eine Einladung, der Stille zu lauschen. Es geht darum zu spüren, ob wir mit uns selbst allein sein können. Weltweit entscheiden sich immer mehr Menschen bewusst dafür.
Ein neues Verhältnis zur Technologie
Im Kern bedeutet Digital Detox, sich bewusst von Geräten zu lösen - von Smartphones, Laptops und sozialen Medien – um das eigene Gleichgewicht wiederzufinden. Sieben Tage offline, ohne Empfang in den Bergen – eine sehr radikale alte Strategie. Heute geht es mehr darum, die Kontrolle über sein eigenes Leben zurückzugewinnen. Grenzen zu setzen und Benachrichtigungen auszuschalten. Einen Spaziergang ohne Handy zu machen. Eine Stunde Stille vor dem Schlafengehen. Ein Wochenende ohne Bildschirm. Es geht also vielmehr Entlastung als um Verzicht.
Seit Anfang der 2010er Jahre hat sich Digital Detox zu einer weltweiten Bewegung entwickelt. 2010 begannen Prominente, Journalistinnen und Therapeutinnen öffentlich Pausen von sozialen Netzwerken zu nehmen. Fünfzehn Jahre später ist der Trend im Mainstream angekommen. Geräte wie iPhones und Androids zeigen automatisch die Bildschirmzeit an. Luxushotels bieten „Digital Silence“-Pakete an. Und der Begriff „Digital Wellbeing“ gehört heute ganz selbstverständlich zur Wellnesskultur – neben Yoga, Meditation und Therapie.
Doch die Frage ist längst nicht mehr: „Können wir uns abkoppeln?“ Sondern: „Warum sollten wir das überhaupt wollen?“
Zahlen, die wachrütteln
Weltweit liegt die durchschnittliche Bildschirmzeit mittlerweile bei über sechs Stunden täglich. Davon entfallen etwa zweieinhalb Stunden auf soziale Netzwerke. Viele Menschen schauen bis zu 150 Mal am Tag aufs Handy. Jede Nachricht, jedes Like, jede Benachrichtigung – ein kleiner, aber ständiger Angriff auf unsere Aufmerksamkeit. Und Aufmerksamkeit, sagen Neurowissenschaftler*innen, ist begrenzt. Sie erschöpft sich.
Studien zeigen einen klaren Zusammenhang zwischen übermäßiger Bildschirmzeit und einem Anstieg von Angstzuständen, Depressionen und Schlafstörungen. Unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, ständig von einem Inhalt zum nächsten zu springen. Es braucht Rhythmus. Atmung. Pausen. Besonders Kinder und Jugendliche sind gefährdet. Studien aus dem Jahr 2023 zeigen, dass Teenager in einigen Ländern bis zu neun Stunden täglich an digitalen Geräten verbringen. Viele geben zu, nicht zu wissen, wie sie abschalten sollen. Oder dass sie beim Versuch das Gefühl haben, etwas zu verpassen.

Tatsächlich aber verpassen wir meist das Leben jenseits des Bildschirms.
Laut Daten aus dem Jahr 2025 verbringen Erwachsene weltweit im Schnitt 6 Stunden und 40 Minuten täglich vor einem Bildschirm, in den USA sind es sogar 7 Stunden und 3 Minuten. Die Harvard T.H. Chan School of Public Health berichtet, dass Kinder in den USA täglich über fünf Stunden vor Bildschirmen verbringen – mit potenziell negativen Auswirkungen auf ihre psychische und physische Gesundheit . Die American Psychological Association stellt fest, dass 41 Prozent der Jugendlichen mit besonders intensiver Social-Media-Nutzung ihre psychische Verfassung als schlecht oder sehr schlecht einstufen. Auch in Europa zeigt der Bericht der Europäischen Kommission von 2024, dass fast die Hälfte der jungen Menschen über emotionale oder psychosoziale Belastungen berichtet – oft im Zusammenhang mit exzessiver Mediennutzung (youth.europa.eu).
Orte zum Abschalten
In den letzten drei Jahren hat sich weltweit ein wachsender Trend zu Orten entwickelt, die echten digitalen Rückzug ermöglichen. In Großbritannien bietet das Netzwerk Unplugged kleine Hütten mitten in der Natur an – ohne WLAN, ohne Fernseher, dafür mit einer abschließbaren Box für das Handy. In Italien organisiert Logout Livenow abenteuerliche, gerätefreie Wochenenden mit Bewegung, Kochen und Austausch. In Umbrien lädt das Hotel Eremito – wie ein mittelalterliches Kloster – zu Stille, Reflexion und digitalen Fastenzeiten ein.

In den USA bietet die Firma Getaway minimalistische Holzhütten im Wald an – nur wenige Stunden vom Stadttrubel entfernt. In Mexiko und Arizona setzen Wellnesszentren wie Rancho La Puerta und Miraval auf „Phone-Free-Zonen“. Schon beim Check-in bekommt man einen Stoffbeutel fürs Handy. Und eine Atempause.
Diese Orte verkaufen nicht bloß einen Aufenthalt. Sie schenken ein Gefühl. Das Gefühl, wieder da zu sein. Wenn ein Gespräch länger dauert als eine Nachricht. Wenn der Blick in die Ferne schweift statt auf einen Bildschirm. Wenn Zeit sich wieder weit anfühlt.
Stimmen, die abschalten
Wer Digital Detox ausprobiert hat, beschreibt die Wirkung oft schlicht, aber eindrücklich: Mehr Energie. Besserer Schlaf. Tiefere Gespräche. Echte Verbindung. Das Bewusstsein dafür, wie viel wir verlieren, wenn wir ständig nur zusehen, was andere erleben, statt unser eigenes Leben zu leben. Eine Künstlerin aus New York hat ihr Smartphone gegen ein altes Tastentelefon getauscht. Sie sagt, sie habe Langeweile wiederentdeckt. Und mit ihr ihre Kreativität. Eine Kommunikationsberaterin aus London löschte für neun Monate ihre Social-Media-Apps – und erlebte erstmals wieder einen Tag ohne ständige Reaktion. Keine von beiden hat Technologie vollständig aufgegeben. Sie haben nur entschieden, sie zu nutzen – und nicht sich selbst verbrauchen zu lassen.
Die Kunst der Stille
Kunst hat uns schon immer innehalten lassen. Uns eine neue Perspektive gezeigt. Auch heute reagieren viele Künstler*innen auf die digitale Überforderung mit Werken, die tiefer gehen als Worte.
In seiner Fotoserie Removed zeigt Eric Pickersgill Menschen, die in ihre leeren Hände starren – die Smartphones sind herausretuschiert, die Haltung bleibt. Die Gesichter leer. Die Nähe fehlt. Gali May Lucas’ Skulptur Absorbed by Light zeigt drei junge Menschen, die nebeneinandersitzen, beleuchtet vom unsichtbaren Licht ihrer Displays. Eine Szene, die wir alle kennen. Und die uns unruhig macht.
Der Autor William Powers schreibt in seinem Buch Hamlet’s BlackBerry, dass moderne Menschen Rückzugsräume brauchen – nicht physisch, sondern geistig. Technologie, sagt er, soll bewusst genutzt werden. Nicht aus Gewohnheit, sondern aus Überzeugung.
Jenny Odell ruft in ihrem Buch How to Do Nothing zum Aufmerksamkeitsstreik auf. Dazu, das Wertvollste, was wir haben – unsere Aufmerksamkeit – nicht leichtfertig herzugeben. Nicht an Algorithmen. Nicht an Schlagzeilen. Nicht an belanglose Diskussionen mit Fremden.
Zurück zu uns selbst
Digital Detox ist kein Ziel. Keine Lösung. Sondern ein Raum. Ein Moment, in dem wir unsere Gedanken wieder hören können. In dem wir uns mit Menschen verbinden, die uns wichtig sind. In dem wir die Welt um uns wahrnehmen, die auch ohne Internet weiterexistiert.
In einer Zeit, in der echte Präsenz selten geworden ist, wird sie zum Luxus. Vielleicht ist genau deshalb Digital Detox Teil eines neuen Lebensstils geworden. Nicht, weil wir Technologie ablehnen. Sondern weil wir uns selbst wählen.
Die Kunst des Lebens – wie sie Artistic Hub versteht – liegt nicht im Lärm. Sondern im Rhythmus. In den leisen Momenten des Alltags, die Bedeutung haben. In der Entscheidung, bewusst da zu sein. Aufmerksam. Verbunden – mit uns selbst, mit anderen, mit der Welt. Und genau in dem Moment, in dem wir uns entscheiden, einmal nicht erreichbar zu sein, entdecken wir etwas leise Kostbares.
Wir sind endlich bei uns selbst angekommen.