MIRKO REISSER (DAIM): 35 JAHRE KÜNSTLERISCHER WEG
- ARTISTIC HUB MAGAZINE

- vor 21 Stunden
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Ein Künstler, der Wände für neue Dimensionen öffnete und Städte in Galerien verwandelte
Mirko Reisser gehört zu den Pionieren einer Kunstform, die auf der Straße entstanden ist und längst in bedeutende Institutionen Einzug gehalten hat. Seine Werke, von frühen Graffiti bis zu monumentalen Installationen, zeigen, wie sich eine künstlerische Sprache über Jahrzehnte entwickeln und immer wieder neu erfinden kann. In seinen Arbeiten begegnen sich Illusion und Realität, Fläche und Raum, und öffnen Fragen nach Identität und Wandel.

Werk: „DAIM – straight up“, Sprühfarbe und Fassadenfarbe auf Betonwand, 96 × 18,3 m (310 ft), Hazelview’s First on Tenth, Calgary, 2022. © Mirko Reisser (DAIM). Mit freundlicher Genehmigung des BUMP Festivals / Verve Projects. Foto: Craig Schultz (b4_flight).
In der Retrospektive im Woods Art Institute war Ihr Weg von den ersten Wänden bis zu monumentalen Installationen zu sehen. Was war für Sie die größte Entdeckung in diesem Prozess, 35 Jahre Arbeit in einer Gesamtschau zu erleben?
Es war ein besonderes Erlebnis, eine Retrospektive über 35 Jahre meiner Arbeit zu sehen. Noch außergewöhnlicher war, dass sie ausschließlich mit Originalwerken präsentiert wurde. Im Bereich Graffiti ist das ungewöhnlich, da viele Arbeiten ihrer Natur nach vergänglich sind. Möglich wurde dies vor allem durch Rik Reinking, der die Werke über Jahrzehnte gesammelt und bewahrt hat und sie damit im Grunde genommen gerettet hat. Mir wurde einmal mehr bewusst, wie wesentlich Sammlerinnen und Sammler für das Verständnis und den Erhalt von Kunstwerken sind. Als Künstler liegt es weder in meiner Rolle noch in meiner Motivation, meine Arbeiten zu archivieren oder zu dokumentieren. Ich erschaffe sie und entlasse sie in die Welt. Unweigerlich können sie verschwinden oder zerstört werden, wie es bei Kunst im öffentlichen Raum meist geschieht. Umso eindrucksvoller war es, all diese Originale wieder vereint zu sehen. Die Retrospektive hat gezeigt, dass selbst in einer so flüchtigen Form wie Graffiti Werke Bestand haben können.
Video: „TAKING OVER | Mirko Reisser (DAIM) at Galerie Borchardt“, Mirko Reisser (DAIM); Aufnahme: Christian Brodack (BroPhoto); Musik: London Drum & Bass, deepersound; YouTube
Ihre 3D-Buchstaben wirken oft, als würde sich die Wand öffnen und eine neue Dimension preisgeben. Ist diese Illusion für Sie vor allem eine technische Herausforderung oder auch ein Weg, Raum und seine Grenzen zu erforschen?
Für mich war die Arbeit in 3D immer mehr als ein technisches Experiment. Sie war ein Ausgangspunkt, um Raum und seine Grenzen, aber auch Transformation und Selbstreflexion zu erforschen. Im Kern geht es um das Konstruieren und Dekonstruieren meines Künstlernamens. Dieser Prozess lässt die Buchstaben im einen Moment erscheinen und im nächsten wieder zerfallen.

In dieser Spannung zwischen Stabilität und Auflösung, zwischen Fläche und Raum, finde ich ein künstlerisches Feld, in dem ich Fragen der Identität verhandle. Die Illusion der dritten Dimension wird zu einem Werkzeug, um Raum zu öffnen und innere Prozesse sichtbar zu machen. Meine Buchstabenformen sind auf gewisse Weise immer Selbstporträts.
Das höchste Wandbild der Welt, das Sie in Calgary geschaffen haben, hat den Charakter einer ganzen Straße verändert. Wie haben Sie persönlich diese Dimension erlebt, und hat sie Ihr Verständnis davon verändert, was ein Mural einer Stadt geben kann?

Das Ausmaß dieses Wandbilds war wirklich außergewöhnlich. Faszinierend ist vor allem, wie unterschiedlich es je nach Perspektive wirkt: Vom Straßenniveau vermittelt es einen anderen Eindruck als aus den gegenüberliegenden Hochhäusern.
Selbst aus der Luft, beim Anflug auf Calgary, ist das Mural deutlich sichtbar und prägt die ohnehin markante Skyline der Stadt. Neben dem ikonischen Calgary Tower ist es zu einem dauerhaften Bestandteil der Skyline geworden und trägt nachhaltig zum Stadtbild bei. Für mich hat es verdeutlicht, wie ein einziges Werk verschiedene Wahrnehmungsebenen für die Betrachterinnen und Betrachter schaffen kann.
In der Galerie Borchardt haben Sie den Raum mit dem Projekt Taking Over vollständig transformiert. Was bedeutet es für Sie, nach so vielen Jahren an offenen Wänden in einen geschlossenen Raum zu treten und ihn mit Ihrer eigenen Sprache zu gestalten?
Eine Galerie bildet einen anderen Kontext als eine Wand im öffentlichen Raum. Das Besondere an diesem Projekt war, dass es nicht darum ging, Leinwände aufzuhängen, sondern die Wände und den Raum selbst zu gestalten. Das Werk war nicht verkäuflich, sodass der Geist des öffentlichen Raums in die Galerie getragen wurde. Mit Taking Over wollte ich den Raum vollständig einnehmen, um eine andere Form von Intensität zu erzeugen. Im öffentlichen Raum dominiert oft die Flüchtigkeit des Moments. Eine Galerie ermöglicht Besucherinnen und Besuchern, sich intensiver mit der Arbeit auseinanderzusetzen. Meine Motivation war es, diese Beziehung zu vertiefen.
Mit dem Buch und der Ausstellung „Eine Stadt wird bunt“ haben Sie eine ganze Epoche Hamburgs dokumentiert. Wie hat Sie diese Erfahrung als Forscher und Archivar künstlerisch geprägt?
„Eine Stadt wird bunt“ war ein umfassendes Projekt. Es umfasste eine Ausstellung, ein Buch, einen Podcast und eine Vinyl-Edition. Im nächsten Jahr folgt ein weiteres Buch, anschließend wird das Projekt voraussichtlich nach zehn Jahren abgeschlossen. Schon jetzt kann ich sagen, dass diese Zeit intensiv war und mich auch als Künstler geprägt hat. Zugleich weiß ich, dass ich erst nach dem Abschluss in eine Phase der Reflexion eintreten und erkennen kann, wie diese Arbeit meinen Blick verändert hat.
Ihre Werke existieren an Wänden, in Galerien, im öffentlichen Raum und in digitalen Formaten. Wo sehen Sie Ihre nächste Herausforderung: im Material, im Raum oder in der Verbindung von Kunst und Stadt?
Ich spüre eine deutliche Hinwendung zur Dreidimensionalität. Mitte der 1990er Jahre, während meines Studiums in der Schweiz, habe ich mit Skulptur gearbeitet und möchte diese Phase meiner Praxis weiterentwickeln. Mit den heutigen technologischen Möglichkeiten, insbesondere dem 3D-Druck, hat sich ein erweitertes und spannendes Feld geöffnet, das ich erkunden möchte.
Auch neue Technologien wie NFTs und künstliche Intelligenz interessieren mich. Ich wachse, indem ich neue Ansätze ausprobiere, und kehre doch immer wieder zur Spraydose, zur Wand oder zur Leinwand zurück. Dieses handwerkliche Element und die klassischen Materialien sind seit 35 Jahren die verbindenden Konstanten meiner Arbeit. Ich bin überzeugt, dass die Rückbesinnung auf das Handgemachte heute wichtiger ist denn je.

Ausstellungsansicht: „DAIM Retrospective: 35 Years of Graffiti Art“, Mai 2024 bis Januar 2025. WAI Woods Art Institute, Wentorf bei Hamburg, Deutschland. Foto: MRpro.
Ob an einer Fassade, in einer Galerie oder im digitalen Raum, Mirko Reissers Kunst bleibt eine Einladung, Grenzen neu zu denken. Nach 35 Jahren voller Experimente und Entdeckungen blickt er offen auf neue Technologien und bleibt zugleich eng dem Handwerk verbunden, das seine Arbeit von Anfang an geprägt hat. In diesem Zusammenspiel entsteht eine Kunst, die Städte verwandelt und den Betrachterinnen und Betrachtern neue Dimensionen öffnet.



